2010 Besuch der Alten Dame
»Reisenden, die ihren Weg über die Strecke Kalberstadt Kaffigen nehmen, wird hiermit dringend empfohlen, in Güllen nicht auszu- steigen. Das Güllener Wirtschaftswunder mit seinem kulturellen
Aufschwung und seinem ganzen Wohlstand beruht auf einem Mord, verübt von den Einwohnern des freundlichen Städtchens an ihrem 65jährigen Mitbürger Alfred Ill, welcher nicht besser und nicht schlechter
war als sie. Er hatte nur das Pech, vierzig Jahre zuvor an eine junge Güllnerin namens Kläri Wäscher zu geraten, die nachmals, von ihm geschwängert und sitzengelassen, in die Welt hinausging und dort
zur Multimillionärin Claire Zachariassian wurde. Als solche erscheint sie jetzt wieder in Güllen und wünscht, daß Alfred Ill getötet werde...
Es ist durchaus ein Besuch aus dem Diesseits, der in Güllen eintrifft. Es ist die alte Dame Korruption, die sich am Schluß des ersten Aktes mit einem teuflisch siegessicheren lch warte!< ins Hotel
zurückzieht, es ist die alte Dame Versuchung, die alte Dame Spekulation auf menschliche Schwäche, auf menschliche Gier - auf die menschliche Bereitschaft, sich auch an Unmenschliches und als
unmenschlich
Erkanntes zu gewöhnen. Und die Reaktion der Güllener Bürger ist die virulent gewordene Ausrede für diese Bereitschaft. Der Besuch der alten Dame war 1956 Dürrenmatts erster internationaler Erfolg,
und in
den seither vergangenen Jahren hätte das Stück leicht seinen geheimnisvollen moralischen Sinn und seinen faszinierenden intellektuellen Glanz verlieren können. Nichts von alledem. Es ist eine
Moralität für Intelligente geblieben und gleichzeitig ein ungeheuer unterhaltsames Stück.« Clive Barnes / The New York Times